Stelios Ramfos – Griechischer Philosoph des 21. Jahrhunderts
(Interview)
Herr Ramfos, kommen
wir zu einer generellen abgedroschenen Frage, jedoch interessiert ihre Meinung sicherlich
unsere Leser. Ist die Krise, die wir in Griechenland erleben, aber auch in
Europa, nur wirtschaftlicher Natur? Hat sie moralische und geistige
Auswirkungen und welche, können wir sagen, sind diese?
Die Oberfläche ist wirtschaftlicher, finanzieller und - sagen
wir einmal - politischer Natur, seine Tiefe jedoch ist geistig, kulturell, und
unter dieser Definition vergessen wir jedes Mal, wenn wir uns mit der Oberfläche
beschäftigen, dass es unter der Oberfläche eine Tiefe gibt, die entscheidend
ist, weil die Tiefe die Mentalitäten bestimmt. Sehen Sie, die
Steuerhinterziehung wird grundsätzlich nicht vom wirtschaftlichen Problem
bestimmt, aber von der Mentalität, welche die Steuerhinterziehung erschafft. Wenn
wir Lösungen finden wollen, müssen wir selbstverständlich auf den
wirtschaftlichen Themen beharren, aber wir müssen auch die geistigen sehr ernst
nehmen, da wir sonst keinen Ausweg finden werden.
Glauben Sie, dass
Europa, die westliche Welt, eine Phase des Verfalls durchläuft? Leben wir eine
Zeit des „Gott ist tot“ von Nietzsche, „Das wüste Land“ von Eliot, den
Umschreibungen Dostojewskis? Ist es nicht an der Zeit, dass wir eine solche
Welt umarmen, aber Abstand von diesem Verfall halten und versuchen, auch wenn es
schwierig ist, unseren eigenen Weg zu finden?
Ich glaube nicht, dass es einen Verfall in der westlichen
Welt gibt. Es gibt eventuell untergehende Erscheinungen, aber ich glaube nicht,
dass es ein Verfall ist, da die ganze Ökumene, China, Indien und viele andere
Länder versuchen, das westliche Vorbild zu imitieren, soweit als möglich mit
diesem zu harmonieren. Das Thema ist, dass wir eine Übergangszeit durchlaufen,
die uns in ein neues Zeitalter bringt. Die Krise ist ein Produkt relativer
Bewusstlosigkeit und gleichzeitig grosser Verlegenheit, was die präsentierten
Symptome angeht. Sagen wir, ich glaube, dass diese Krise auf die Tatsache
zurückzuführen ist, dass wir in beispiellosen Geschwindigkeiten der Bewegung
von Kapital, Menschen und Dingen leben. Diese beispiellosen Geschwindigkeiten,
die 1989 - können wir sagen -begonnen haben und die Welt seither die
Möglichkeit hatte, in ihrem Rhythmus zu kommunizieren, vervielfachten das
Kapital und das Vermögen der Menschen - die Bewegung des Kapitals - ist von 35
Billionen auf 350 Billionen gestiegen…
Könnten wir sagen,
dass wir vom nationalen Kapitalismus zum supranationalen Kapitalismus
übergegangen sind?
Genau. Wir sind in ein post-nationales System übergangen,
jedoch all diese Werkzeuge, die der letzten Epoche angehörten, beibehaltend. Es
war ganz natürlich, dass die veralteten Volkswirtschaften nicht die richtige
Absorptionsfähigkeit des Kapitalvolumens aufwiesen. So entstanden die
Finanzblasen und die Finanzblasen lösten die Krise aus. Also ist das Phänomen,
das wir durchleben ein Übergangsphänomen, ohne dass dies bedeutet, dass die
Katastrophen ausgeschlossen sind, dass es nicht auszuschliessen ist, dass
Europa eine intensive Krise durchlaufen wird. Aber ich glaube nicht, dass es
den Verfall bedeutet. Es ist ein Sprung in das halb-Unbekannte, halb-Bekannte.
Das, was allgemein
gesagt wird, dass die sogenannten Märkte die Gesellschaften, die Politiker
kontrollieren und die Gesellschaft unterdrücken? Dass wir im Wesentlichen weit
davon entfernt sind, dass die Bürger über ihr Schicksal bestimmen, zur Bildung
ihrer Gesellschaft? Aufgrund Ihres Ansatzes, ist das nur eine Seite der
Wahrheit?
Das ist nur die eine Seite der Wahrheit, da in diesem
Zeitpunkt die Märkte in Wahrheit Zähler der Zeit sind in einer Art, die nicht
sicher ist. Also ändern wir entweder die Verständniskriterien des Phänomens
oder wir werden uns in einer Sackgasse wiederfinden. Und zu diesem Zeitpunkt
sind die Märkte die genauesten Zähler der Situationen, aber auf einer
oberflächlichen finanziellen Ebene, da sie nicht tiefer „lesen“ können.
Industrieller
Kapitalismus, protestantische Moral, Vatikanstaat, Banker, Finanzsystem,
Imperialismus, Arbeitsmoral, Disziplin, nationale Konsumenten, Überschuldete,
erpressbare und leicht ersetzbare Arbeiter. Lohnt es sich, als Griechen auf all
das eifersüchtig zu sein? Von all dem, was die westliche Kultur ausmacht, was
müssen wir als Griechen behalten, wie sollen wir unser Griechentum in dieser
westlichen Kultur anpassen? Ist diese Anpassung letztendlich vielleicht
gescheitert, da wir die Harmonisierung mit der westlichen Kultur nicht
geschafft haben?
Dass wir die Harmonisierung mit der westlichen Kultur nicht
geschafft haben, bedeutet nicht, dass diese gescheitert ist. Historisch gibt es
keine andere Möglichkeit, auch die entlegensten Länder der Welt imiteren die
westliche Kultur, weil in diesem System, das die Zeit mit der Kommunikation
verbindet, sich keinem anderen Vorschlag widersetzt, der überzeugender sein
könnte. Ich glaube, wir müssen beginnen, ohne vorauszusetzen, dass eine
Zivilisation, eine Kultur, in diesem Falle die Westliche, keine Nachteile hat –
es gibt keine Form menschlichen Daseins, die perfekt ist. Nur, dass die
Vorteile dieser Zivilisation grösser als alle anderer Zivilisationen sind,
durch die Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, eine Erhöhung und Verteilung
des Reichtums, die wir niemals kannten, ein bisher unbekanter Wohlfahrtsstaat,
eine alle Schichten betreffende Erziehung und so, unter dieser Ansicht, ist das
Zentrum entstanden, das die übrigen Völker nach vorn blicken lässt und das sie
imitieren wollen. Hier mischt sich jedoch die Weisheit der übrigen Völker ein,
wenn ihnen z.B. ihre Besonderheiten in dieser Annäherung bewusst werden. Wenn
sie es nicht schaffen, entstehen grosse Probleme. Nehmen wir die griechische
Kultur als Beispiel, in welcher das übermässig entwickelte Gefühl vorhanden ist,
aber es besteht keine entwickelte Kritikeigenschaft, so können die Institutionen
nicht funktionieren, da es eine Schaffung der europäischen Zivilisation ist,
die den kritikfähigen Menschen voraussetzt, den Mensch der Logik und nicht nur
des Gefühls. So wird es grosse Zeiträume dazwischen geben, in welchen diese
Themen angegangen werden müssen. Ich hoffe, dass die Gesellschaften mit den uns
heute zur Verfügung stehenden Tatsachen der Kommunikation, nicht in
hierarchische und absolute Formen zurückfallen, die wir in der Vergangenheit
kannten, ohne dass dies bedeutet, dass harte soziale Umstände, wilde Kriege,
usw. ausgeschlossen werden.
Müssen wir um unsere
nationale Identität fürchten?
Wenn jemand um seine nationale Identität fürchtet, bedeutet
dies, dass er das Spiel verloren hat, weil eine nationale Identität nicht
bedeutet, geschlossen zu bleiben, sondern stetig dynamischer hineinzupassen.
Das Problem einiger Völker, wie wir es sind, die Balkanvölker, ist das eigene Unverständnis,
dies nur unter sehr geschlossenen Bedingungen. Das verursachte grosse Starrheiten
und Ängste der Grenzen, solche, die die Völker in enge Rahmen einschliessen,
ohne nützliche Resultate.
Sie nahmen oft Bezug
auf die leidenschaftliche Art, mit welcher die orthodoxen Christen, d.h. auch
die Griechen, die Zeit wahrnehmen. In einem der letzten Interviews des Byzantinisten
Runciman las ich seine Gewissheit über die moralische und geistige
Überlegenheit der sogenannten byzantinischen Welt im Vergleich mit dem
westlichen Mittelalter und seine Vorhersage, dass die Orthodoxie die
überwiegene Religion sein wird, dank ihres mysteriösen Charakters und dem
Fehlen der absoluten Logokratie in der Wahrnehmung und Interpretation der Welt.
Was würden Sie Runciman sagen?
Dieser Ansatz gefiehl Runciman immer schon, aber ich gehe nicht
einig mit ihm. Ich achte ihn als Historiker, jedoch würde ich sagen, dass er
einen Fehler macht. Die Überlegenheit des Byzanz bis zum 10. Jahrhundert im
Vergleich zum Westen ist unbestritten, aber nach dem 10. Jahrhundert und v.a.
nach dem 12. Jahrhundert hat sich dies geändert, weil im Westen Entscheidungen
getroffen wurden, welchen Byzanz nicht folgen konnte und darum unterging. Wenn
wir über diese Epoche reden, die sich selbst und alles was folgte erbte, sehen
wir, dass sie nicht das Beste erbte, und wir sprechen nicht nur von Griechenland,
wir sprechen auch über den orthodoxen Balkan, aber auch über das orthodoxe
Russland. Es schaffte Länder mit Autoritarismus, mit schrecklichem
Totalitarismus und verursachte eine Sackgasse der Zeit, in dem Sinne, dass die betriebliche
Zeit eine stetig drehende Zeit ist. Demzufolge gibt es in der östlichen Zeit
keinen Ausweg für die Zeit der Kreativität, für die Bewegung nach Vorn. Das ist
ein sehr ernstes Thema, die griechische Zeit, über welche ich mir vorbehalte,
später zu sprechen.
Sie geben die
Dimension der Zeit. Sprechen wir ein wenig über die Dimension des Raumes. Nebst
der geistigen, moralischen und im engeren Sinn wirtschaftlichen Annäherung an
das griechische Problem, kommen mir geopolitische Analysen in den Sinn, dass es
für den heutigen griechisch-staatlichen Raum schwierig ist, autonom zu sein und
zu florieren, aber auch psychologische Annäherungen, wie von Frau Ahrweiler,
die sagt, dass wir das einzige Land unserer Nachbarn sind, die unsere
Metropole, Konstantinopel, nicht befreit haben. D.h. unter den heutigen
Tatsachen, werden unsere Haushaltspläne immer defizitär sein, unsere psychische
Substanz unvollständig? Was ist ihre Meinung?
Das kritischste für Griechenland ist das Problem der
gesellschaftlichen Konsistenzformen und Bildung. In Griechenland, wo das
staatliche Dasein noch nicht bewusst geworden ist, wo wir noch nicht gelernt
haben, mit dem Unbekannten zu leben, sind die Anzeichen der Eigenarten sehr
stark und die Anzeichen der Konkurrenz und der bürgerlichen Widersprüche noch
stärker. Wenn wir die „Wenns“ bei Seite lassen, von welchen wir nur träumen
können, kann gesagt werden, dass die alte Zeitform, eine Form verbunden mit dem
Raum war, darum hatten wir die nationalen Zeiten und die nationalen Räume. Nun,
wie wir zu Beginn sagten, befinden wir uns in einem post-nationalen Stadium und
erleben gleichzeitig enorme Geschwindigkeiten, die sich eben genau deshalb
entwickeln, weil der Raum relativ wurde. Die Zeit wurde vom Raum befreit und
die Schuldenkrise, welcher wir heute begegnen, beruht auf der Befreiung der
Zeit vom Raum. Wenn sich die Zeit gänzlich befreit, könnten wir ernste
Katastrophen erleben. Was ist die Anforderung an die Zeit, die sich im Galopp
bewegt und gleichzeitig für die Menschen nützlich sein muss? Dass sie einen
Raum erhält, und dieser Raum nennt sich „Regeln“. Darum sucht die Menschheit,
von den grossen Börsen der Welt bis hin zu den kleinen Ländern wie Griechenland
nach Regeln, d.h. idealisierte Formen, die die Kontrolle der grossen Geschwindigkeiten
erlaubt. In Griechenland, wo wir keine Regeln kennen, werden wir enorme
Probleme für eine lange Zeit haben. Wenn in Europa alles gut geht, werden auch
wir uns bequemen. Die Frage ist die Entdeckung der Form, die die Rolle des galoppierenden
Raumes spielen wird, eine Form, die die kreative Zeit bändigt – wir reden also
von Regeln für ein geistiges Feld.
Folglich stehen wir vor grossen Herausforderungen der Menschheit.
Wenn wir diese Herausforderungen mit den Entdeckungen und Errungenschaften in
Verbindung bringen, wie diese der Genforschung, verstehen wir, wie schnell die
Zeiten kooperieren müssen, da wir auf der einen Seite nicht veraltete Formen der
sozialen Bildung haben können und auf der anderen Seite DNA-Kontrollen auf
einem so hohen Niveau, weil wir in diesem Fall sehr negative Ergebnisse haben
werden, da sehr gefährliche Dinge in menschliche Hände – Völker - fallen werden,
die kein breiteres Bewusstsein haben, als dasjenige ihres Daseins.
Eine Frage zur Erziehung.
Der junge Grieche und zukünftige Bürger muss ein Erziehungssystem haben, verbunden
mit dem Arbeitsmarkt, ansonsten ihn das automatisch moralisch und geistig
schwächt, ihn den Marktregeln unterwirft, ihn mechanisiert unter Entzug eines
Teils seiner Freiheit und Phantasie?
Ich glaube nicht, dass die grossen amerikanischen
Universitäten solche Ergebnisse aufweisen. Das Thema an den griechischen
Universitäten ist, dass die Forschung gänzlich aufgegeben wurde. Jetzt werden
Sie sagen, gab es sie, um aufgegeben zu werden? Nein, weil in Griechenland eine
Kultur der Antworten herrscht und nicht eine Kultur der Fragen, etwas, was ein
sehr negatives Klima für die Forschung schafft. Die Erziehung und das Leben
müssen enge Beziehungen haben, solche, dass die Priorität der Erziehung in der
Gesellschaft nicht zerstört wird.
Jede Krise hat auch
ihre positiven Seiten. Hat der griechische Staat in den letzten Jahren
vielleicht die Griechen lahmgelegt und diese haben sich innerhalb der Grenzen
bequemt? Ist diese Krise vielleicht eine gute Chance für unseren nationalen
Auftrieb? Und wenn so etwas gilt, was muss der Grieche in seinem Gepäck mit
sich tragen und wie muss die neue griechische Vision aussehen?
Die griechische Vision muss sein, dass wir endlich unser
negatives Selbst aufgeben. Die grosse Chance, die uns in diesem Moment gegeben
wird, liegt darin, dass genau das politische System eine grosse Verantwortung
hat, aber auch die Gesellschaft nahm auf ihre Weise teil, es ist endlich eine
einmalige Chance, die Probleme nicht auf Andere abzuwälzen, aber bei uns selbst
zu beginnen, jeder bei sich selbst. Weil unsere Schwierigkeit als Bürger auf
der Tatsache beruht, dass wir ein Schwaches Gefühl an Verantwortung haben,
jedoch ein ausgeprägtes Gefühl der eigenen Interessen und Rechte. Es muss uns
jedoch klar werden, dass wenn man keine Verpflichtungen hat, man sich wie ein
Tier benimmt, jedoch wenn man keine Rechte hat, wird man wie ein Tier
behandelt. Wir müssen an den Punkt angelangen, an welchem wir die Rechte mit
den Verpflichtungen verbinden, d.h. dass wir korrekte Bürger werden.
Welches muss die
Beziehung Griechenlands mit dem Osten sein, mit dem entstehenden sog. arabischen
Frühling, von welchem wir noch nicht wissen, wo er enden wird? Wie sieht der
neue Dialog Griechentum – Osten aus?
In der globalisierten Wirklichkeit gibt es nur
Zusammensetzungen und keine Auschlüsse. Was den arabischen Frühling angeht,
wissen wir noch nicht, wo er endet. Derzeit bringt er nur Zurückhaltungen an
die Oberfläche, ich sehe nicht, dass er etwas anderes bringt, was jedoch nicht
auszuschliessen ist.
Und was ist die Rolle
Griechenlands in dieser neuen Welt?
Die Rolle Griechenlands muss die uralte Rolle des
Brückenbauers zwischen dem mittleren Osten und Westen sein, und das muss sie
wie ihren Augapfel hüten, aber es muss auch eine Ehre sein, das zu tun. Das
grösste Problem der Griechen ist nicht einfach an Selbstvertrauen zu gewinnen,
aber dass wir endlich wieder das verlorene Vertrauen der Anderen in uns
erhalten.
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Dies ist ein Teil eines älteren Interview
s, welche im
Intelligent Life Greece veröffentlicht wurde (http://www.intelligentlife.gr/FEATURES/STELIOS-RAMFOS.html)
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